Freiheit als kapitalistischer Zwang zur „Selbstverwirklichung“

Über das Verhältnis von Freiheit und Kapitalismus

„Die Leistungsfähigkeit des Systems macht die Individuen untauglich für die Erkenntnis, dass es keine Tatsachen enthält, die nicht die repressive Macht des ganzen übermitteln.“ Herbert Marcuse

Was ist Freiheit? Und wie bestimmen wir diese? Fragen die davon abhängen, was wir als Essenz des Begriffes erachten. Uns wird eingebläut, dass wir in einem Zustand völliger Freiheit leben. Gerade unsere Gesellschaft soll es sein, die der Freiheit zur vollen Entfaltung verhilft. Nicht zuletzt deswegen gilt es, so schallt uns aus jeder Ecke entgegen, dieses Höchstmaß an individueller Freiheit gegenüber jenen zu verteidigen, welche diese, unsere Freiheit zu bedrohen trachten. Denn unsere Freiheit ist ein kostbares Gut, segensreiche Errungenschaft von Marktwirtschaft und Demokratie. Das Ende der Geschichte ist erreicht – zumindest für unsereins – da wir als eine_r der wenigen Glücklichen in den demokratischen Zentren leben dürfen. In einer Zeit in der außerhalb von Demokratie und Markt – ein Paar, dass so hören wir stetig, untrennbar miteinander verbunden ist – lediglich Diktatur und Terror auf uns warten, gilt es, um die Geschichte vollends abzuschließen, zuletzt jene peripheren Gegenden der Welt mit unserer Gesellschaftsordnung zu beglücken.

So wir doch, wie überall verlautbart wird, in der freiest möglichen Gesellschaft leben, die das Menschengeschlecht imstande ist zu errichten, wollen wir uns daran machen, ein zentrales Element dieser allgegenwärtigen Freiheit in unserer Gesellschaftsordnung genauer zu erfassen. Schenken wir unseren Lehrern und Professoren, den Politkern und Wirtschaftsbossen Glauben, besteht die Freiheit in unserer Gesellschaft, zuvorderst in der Möglichkeit einer und eines Jeden, sich selbst zu verwirklichen. Hört sich dies aufs erste durchaus vernünftig an, so interessiert uns doch, was es mit dieser Selbstverwirklichung genau auf sich hat. Was uns auf diese Frage erwidert wird ist, dass die Selbstverwirklichung bereits bei der Wahl der richtigen Schule beginnt und sich schließlich über das Aussuchen eines gefragten Ausbildungsplatzes oder eines zukunftsfähigen Studienganges, bis hin zum ultimativen Ziel einer jeden menschlichen „Selbstverwirklichung“ – der Wahl eines geeigneten Jobs und damit einer – für manche mehr, für manche weniger – steilen Karriere, erstreckt. Doch worauf läuft dieser Freiheitsbegriff hinaus?

Zuerst so bekommen wir wieder zu hören, ist diese uns gewährte Freiheit an Verantwortung und Selbstdisziplin gebunden – Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Daher heißt es für uns auch immer, uns bereits im Kindesalter mit guten Leistungen zu profilieren und besser zu sein als unsere Mitschüler_innen und Freund_innen. Dies wird umso wichtiger, je näher der Übergang in eine weiterführende Schule rückt – ist dies doch der erste Schritt, der maßgeblich über unsere Zukunft entscheidet. Leistungsdruck, Konkurrenz und Selektion sind es auch, die uns über unsere gesamte Ausbildung in Schule, Betrieb oder Universität verfolgen. Dabei wird uns immer klarer, was wir unter dem Begriff Freiheit alias Selbstverwirklichung verstehen sollen. Es gilt uns fit zu machen, für die Anforderungen des (Arbeits)Marktes. Daher finden wir uns zunehmend in einem Hamsterrad wieder, in welchem wir unerlässlich dem Erwerb verschiedenster (Zusatz-)Qualifikationen hinterherhetzen, in der Hoffnung, dass diese uns von unseren, zu reinen Konkurrent_innen verkommenen, Mitmenschen abheben. Ist es uns schließlich gelungen diese auszustechen und an einen Arbeitsplatz zu kommen, nimmt das uns allseits eingeimpfte Dogma der Selbstoptimierung jedoch keineswegs ein Ende. Vielmehr heißt es auch innerhalb des Betriebs leistungsfähiger zu sein als die anderen, sich gegen diese zu behaupten und gleichzeitig so flexibel zu sein, den stets veränderten Anforderungen des Marktes zu genügen. Wenn dies auch mit unzähligen Überstunden und einer fortlaufenden Steigerung der Arbeitsintensität bezahlt wird, in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage heißt es Zähne zusammenzubeißen, damit mensch morgen nicht auf der Straße steht.

Haben wir unseren Weg zu beruflicher „Selbstverwirklichung“ gefunden, gewähren uns Demokratie und Marktwirtschaft natürlich jede Menge zusätzlicher Freiheiten. Bei genauerem Hinsehen, entblößt sich jedoch auch diese Art von Freiheit nur allzu oft als die Freiheit der Konsument_innen oder „Verbraucher_innen“, aus einer Vielzahl an Waren zu wählen, die uns Glück und Erfüllung verheißen. Einer ubiquitären Verblödungsmaschinerie aus Reklame, Medien, dem diffusen gesellschaftlichem Zwang „dazuzugehören“ und dem gerade angesagten „Lifestyle“ mit all seinen „must-haves“ zu genügen, ausgesetzt, schenken wir diesen Versprechen nach dem schnellen Glück und „Selbstverwirklichung“ im Konsum nur allzu gern glauben. Gefangen im Teufelskreislauf aus Arbeit und Konsum, zwei Kategorien in welche der Kapitalismus am liebsten unser ganzes Leben einspannen würde, begnügen wir uns häufig mit diesem eigeengten Leben, das uns als frei und glücklich verkauft wird – schließlich machen es uns die anderen ja gleich! Daher tragen wir täglich unsere Arbeitskraft zum Markte oder lassen uns in Schule und Ausbildung fit dafür machen, lassen uns als menschliche Produkte verwerten zum Wohle der wirtschaftlichen Gesundheit „unseres“ Betriebs oder „unserer“ Wirtschaft, was nichts anderes heißt, als sich im Sinne des „automatischen Subjekts“, der Akkumulation von Kapital, gebrauchen und als menschliche Arbeitskraft verbrauchen zu lassen. Dabei begleitet uns der ständige Druck uns im Sinne der „Selbstoptimierung“, als Ware unserer Arbeitskraft selbst zum Objekt degradieren zu müssen, um uns unter den Zwängen des Marktes bestmöglich „verkaufen“ zu können. Diesem ganzen fremdbestimmten Prozess, der uns stets als demütige Bittsteller des anonymen Selbstzweck-Mediums namens Markt zurücklässt, verdanken wir es schließlich, sofern denn der Verkauf der eigenen Haut Erfolg zeitigte, unsere noch nicht völlig von der Arbeit verschlissenen Energien im Konsum, wiederum für das Funktionieren ebendieses Fetischsystems, das uns stets in das gleiche Hamsterrad zurückwirft, zum Altare zu tragen, bis wir schließlich erschöpft ins Bett fallen, um dem Ruf des Weckers zum nächsten Arbeitstag zu harren.

Natürlich möchte mensch jetzt entgegenhalten, dass unser System aus Demokratie und Marktwirtschaft sehr viel mehr ist, als dieser immerwährende Kreislauf aus Lohnarbeit und Konsum, dem wir kaum zu entrinnen vermöchten. Unsere Freiheit besteht eben auch darin, dass wir unsere Meinung weitestgehend frei äußern können, dass wir, so wir uns denn bemühen, durchaus auch kontrovers und kritisch informieren und bilden können und nicht zuletzt, dass uns das System doch ein Mindestmaß an Schutz vor körperlicher Unversehrtheit gewährt, nicht zu vergessen die Freiheit alle paar Jahre, unserer Meinung durch die Abgabe unserer Stimme mehr oder weniger Ausdruck verleihen zu können. Nichtdestotrotz bleibt es eben DAS zentrale Element von Freiheit, über das eigene Leben selbst bestimmen zu dürfen. In unserer kapitalistischen Gesellschaft, ist diese uns so oft unter dem Begriff der „Selbstverwirklichung“ verkaufte und als Errungenschaft von Demokratie und Marktwirtschaft gefeierte „Freiheit“, jedoch wesentlich dadurch konstituiert, dass wir unabhängig von Zweck und Inhalt, gezwungen sind, durch Lohnarbeit die unmittelbare materielle Reproduktion unseres eigenen Lebens zu bestreiten – ein existenzieller Zwang, der nicht selten Angst bereitet und als solcher kaum mit wirklicher Freiheit und Selbstbestimmung zu vereinbaren ist. Selbst wenn uns das System die Freiheit lässt, in der Zeit, in welcher unser Leben nicht durch die Zwänge von Markt und Konkurrenz fremdbestimmt wird, mit Dingen zu verbringen die uns Spaß und Freude bereiten, ist diese Freiheit in unserer Warengesellschaft mehrheitlich gekoppelt, an jene Selbstveräußerung gegenüber dem blinden Selbstzweck der Verwertung des Werts und unserer darin eingelassenen Rolle als Humankapital. Da das Konstrukt das uns innerhalb eines festgelegten Rahmens, gewisse durchaus zu verteidigende Grundrechte und Grundfreiheiten zuerkennt, in der Form des bürgerlich kapitalistischen Staates jenes Gebilde ist, das uns gleichzeitig rechtlich auf die Rolle als oberflächlich freie und gleiche Marktsubjekte reduziert und die Reproduktion unseres Lebens in Richtung der fremdbestimmten Verwertung der eigenen Arbeitskraft gemäß qualitativ blinder ökonomischer Sachzwänge determiniert, handelt es sich bei den formell getrennten Sphären Markt und Staat um ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit.

Wenn uns also Apologeten von Demokratie und Marktwirtschaft bei jeder Gelegenheit wieder einmal das Privileg individueller „Selbstverwirklichung“ vor Augen zu führen versuchen, heißt es diesen Kampfbegriff vermeintlich kapitalistischer „Freiheit“ radikal bloßzustellen und zu dekonstruieren. Selbstbestimmung in der Sphäre der Ökonomie, also der materiellen Reproduktion des eigenen Lebens, selbst wenn einige wenige Privilegierte imstande sein mögen sich in Jobs zu retten die ansatzweise den eigenen Interessen entsprechen und noch ein Minimum an Spaß versprechen, sind doch stets unvermeidlich an die binnenrationalen Sachzwänge des Kapitals und dessen immanenter Funktionsmechanismen gebunden. Das kapitalistische Versprechen „einen Job zu finden der Spaß macht“ entblößt die eigene Substanzlosigkeit allein in der Tatsache, dass Arbeitsstellen weder nach Kriterien des Vergnügens, noch nach qualitativer Sinnhaftigkeit vergeben werden, sondern deren Existenz und Inhalt allein jenen Systemimperativen der ökonomischen Rentabilität zu genügen haben, welche aufgrund deren irrationalen Charakters gegenteilig gerade als Negation der Kategorien von Vergnügen und selbstbestimmter, sinnvoller Tätigkeit zu betrachten sind. Dies bedeutet, dass selbst jene Tätigkeiten, die uns auch jenseits kapitalistischer Systemzwänge ideell oder materiell als nützlich und sinnvoll erscheinen, aufgrund eben der Tatsache, dass diese im Kapitalismus nur eine Existenzberechtigung haben, sofern sie ökonomischen Mehrwert generieren, so gestaltet werden müssen, dass Aspekte wie Spaß und Selbstbestimmung gegenüber kapitalistisch konkurrenzbedingten Notwendigkeiten, wie der Erzeugung von Stress, Überstunden, hohem Druck und daraus hervorgehender physischer wie psychischer Erschöpfung, kaum Platz zur Entfaltung haben. Weit davon entfernt, dass dies der individuellen Charakterlosigkeit einzelner Kapitalist_innen/Manager_innen zuzuschreiben ist, sind es vielmehr jene systemischen Notwendigkeiten innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz, die bei Strafe des ökonomischen Untergangs, eine stetige Erhöhung der Arbeitsbelastung, sowie damit einhergehendem physisch/psychischen Druck unumgänglich machen und damit ganz zu schweigen von der Masse an unwürdigen und stupiden „Drecksjobs“, selbst bei eigentlich als sinnvoll erachteten Tätigkeiten, Aspekten wie Spaß und Selbstbestimmung entgegenstehen. Andererseits konstituiert sich der kapitalistische Arbeitsmarkt, eben aufgrund der notwendigen Vorherrschaft ökonomischer Rentabilitäts- und Effizienzkriterien, lediglich in der absoluten Minderheit aus solchen Jobs, die zumindest in der Theorie so etwas wie Spaß, Sinnhaftigkeit und Kreativität versprechen. Vielmehr erzeugt die kapitalistische Arbeitsteilung gemäß jener Effizienzkriterien, zumeist Jobs, die an Sinnentleertheit und Geistlosigkeit kaum zu überbieten sind, dementsprechend bestenfalls eine Parodie individueller Entfaltung darstellen und mit unserem Leben und unseren Bedürfnissen in etwa so viel zu tun haben wie der Kapitalismus mit Freiheit, Menschlichkeit und Solidarität.

Hinsichtlich der zweiten Seite der Medaille „Marktwirtschaft und Demokratie“, dem vielgerühmten Reich demokratischer Mitbestimmung, also der Sphäre der Politik, sieht es in Sachen Freiheit alias „Selbstverwirklichung“ nicht minder düster aus, auch wenn hier im Gegensatz zur ökonomischen Sphäre zumindest so etwas wie der Schein von Mitbestimmung aufrechterhalten werden soll. Was uns also hier frei steht, ist es alle paar Jahre ein Kreuzchen unter die eine oder andere sogenannte „demokratische Alternative“ zu setzen und damit diejenigen zu legitimieren, die mit mal mehr und häufig weniger inhaltlich verschiedener Akzentuierung, den politischen Rahmen jener ökonomischen Fremdbestimmung und Unfreiheit festlegen, die den Großteil unseres Lebens bestimmen. Die Freiheit der Wahl in unserer bürgerlichen Demokratie und damit der Schein von politisch individueller „Selbstbestimmung“ und „Selbstverwirklichung“, äußert sich daher in nicht weniger, als der lediglich bezüglich politischer Details variierenden Perpetuierung der irrationalen Sachzwängen unterliegenden Unmündigkeit und Fremdbestimmung unseres Lebens.

Freiheit im Kapitalismus heißt nichts anderes, als den Zwang der größtmöglichen Selbstentäußerung, an die Bedürfnisse der Verwertung des Kapitals!

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